Sigismund von Radecki: Über einen Last-Minute Ruhri
Der große Lyriker Peter Rühmkorf wurde zwar in Dortmund geboren, seine Mutter war allerdings nur auf der Durchreise. Ralf Rothmann, Nicolas Born, Marion Poschmann …viele begabte Schriftsteller aus dem Ruhrgebiet verließen es spätestens als Twens. Und das war vielleicht besser so. Besonders Satirikern geht es hierzulande nämlich nicht gut. Der wunderbar vertrackt-selbstironische Michael Klaus starb 2008 mit nur 56 Jahren verarmt und von einem Ehrensold des Landes NRW lebend in Gelsenkirchen-Buer. Viel früher erwischte es auch schon einen Erzähler und Essayisten aus Riga.
Anders als Berlin zog das Ruhrgebiet nur selten einmal weltläufige deutschsprachige Schriftsteller an. Die heute in Duisburg lebende Lyrikerin Barbara Köhler dürfte da zu den wenigen Ausnahmen gehören. Gerhard Köpf, Münchner Romancier und P.E.N.-Club-Mitglied, lehrte in den 80er/90er Jahren als Professor für Gegenwartsliteratur an der Duisburger Universität und er nahm nie seinen Wohnsitz in der Stadt Montan, um vor allem hier die Konflikte für den damals allenthalben geforderten großen Gegenwartsroman deutscher Feder aufzuspüren. Sicher ist: Das Ruhrgebiet hält ebenso viel Stoffe, Themen und soziale Spreng-Sätze bereit wie Dublin, New York oder Kalkutta. Doch das Revier, ganz Nordrhein-Westfalen galten immer schon eher als aliterarisch. Maloche sei hier eben bekannter als Mallarmé, winken Literaturgourmets noch heute ab, als ob das bei ihnen zwischen Flens- und Ravensburg ganz anders wäre.
Böse Zungen könnten gar behaupten, dass man an die Ruhr bestenfalls zum Sterben käme – so geschah es dem bedeutenden Essayisten und Satiriker Sigismund von Radecki, 1891 in Riga geboren. Er erhielt 1962 den Immermann-Preis der Stadt Düsseldorf - übersiedelte wegen eines schweren Nierenleidens im Februar 1970 von Zürich nach Gladbeck. Ausgerechnet dort wohnte jene treue Freundin und Leserin Ruth Weilandt-Matthaeus, die ihm auch die nötige ärztliche Behandlung zukommen ließ. Nur wenig später, am 13. März desselben Jahres, ist Radecki, dessen „ABC des Lachens“ 1953 als Nr. 84 in der Taschenbuch-Reihe rororo (Rowohlt Rotations-Romane) erschienen war, zwar nicht an Gladbeck, aber in Gladbeck gestorben. Dort wird sein Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof Gladbeck-Mitte auch heute noch von der kleinen Mittelstadt gepflegt. Eine Aufgabe, die sich Gladbeck früher mit der mittlerweile verstorbenen Nachlassverwalterin Weilandt-Matthaeus teilte.
„Bleiben wird von mir ein schmales Bändchen meiner ausgesiebten Arbeiten, aber auch das höchstens für Jahrzehnte. Doch stimmt mich diese meine Vergänglichkeit durchaus nicht traurig ..." meinte Radecki einst selbst. Man muss ihm in Abwesenheit widersprechen. Bleiben müsste von Radecki besser ein dicker Band ausgesuchter Essays und Satiren, denn die sind noch heute mit großem Vergnügen und befreiendem Lachen zu lesen. Es stünde nicht nur einem nordrhein-westfälischen (Klein-)Verlag gut an, diesen Last-Minute-Ruhri neu zu entdecken und zu verlegen.
Dieses Buch der Zukunft müssen Sie dann aber unbedingt lesen! Angesichts dieses Appells allerdings würde sich Radecki wohl im Ehrengrabe umdrehen und sich selbst zitieren:
„Warum will jeder von jedem, dass der jedes Buch liest? Was hat er davon? Will er mir was Gutes gönnen? Will er mich zu seiner Weltanschauung herumkriegen? Oder hat ihm das Lesen das Denken atrophiert, so dass er gerade noch seine letzte Lektüre im Kopf hat, und sonst nichts? Oder weil er glaubt, von einem herrlichen Werke schwärmend, auch selber herrlich zu sein? Weil er gebildet ist, und Gebildete sich bekanntlich über Bücher unterhalten? Weil er in der ganzen großen Welt keine Anknüpfung mit seinen Mitmenschen findet als gerade ein Buch? Weil er so wenig vom Lesen weiß, dass er das fremde Auge für einen Trichter hält, dem jeglicher Spiritus zugemutet werden kann? Weil - doch die Vermutungen sind gerade so zahllos wie die Bücher, die man gelesen haben muss. Komische Menschen, die immer nur einatmen! Manche sind schon ganz aufgeblasen davon.“
Sigismund von Radecki,
geboren 1891 in Riga. Er war zunächst Ingenieur, dann seit 1924 freier Schriftsteller, Journalist und Übersetzer ins Deutsche (u.a. von Gogol). Freundschaft mit Karl Kraus. Zahlreiche Veröffentlichungen begründeten seinen Ruf als Essayist und Feuilletonist, als Meister der kleinen Form. Am 13.3.1970 starb Sigismund von Radecki in Gladbeck.
Im März 1980 erschienen im Verlag F.H. Kerle die ‚Bekenntnisse einer Tintenseele’, eine umfassende Sammlung erzählerischer Texte. 1981 folgte im Verlag Kerle ‚Weisheit für Anfänger. Plaudereien und Essays’. Beide Anthologien wurden von der Gladbeckerin Ruth Weilandt-Matthaeus herausgegeben. Informationen zum Nachlass Sigismund von Radeckis sind u.a. beim Deutschen Literaturarchiv in Marbach erhältlich.